Wie wir auch in Zukunft sicher leben können
Menschen streben danach, in Sicherheit und Freiheit zu leben. Doch dieses Streben erfordert stetige Aufmerksamkeit und Anstrengung, um immer wieder neuen Herausforderungen zu begegnen. Wie Forschung dabei helfen kann, erläutert Dr. Jörg Overbeck, Leiter des Teilbereichs Sicherheitsforschung am VDI Technologiezentrum, im Gespräch mit #TZExpertise.
Ob Wetterextreme, die Corona-Pandemie oder der Ukraine Krieg: Selbst in einem als sicher geltendem Land wie Deutschland hat die Zahl der gefühlten und realen Bedrohungen in den vergangenen Jahren zugenommen. Wie können wir uns besser auf Krisen und Katastrophen vorbereiten, neuen Bedrohungen wirksam entgegentreten und im Notfall effektiv Hilfe leisten? Mit diesen Fragen beschäftigt sich ein Team um Dr. Jörg Overbeck am VDI Technologiezentrum (VDI TZ).
Was verbirgt sich alles hinter dem Begriff zivile Sicherheit?
Das breite Feld der zivilen Sicherheit ist nahezu allgegenwärtig. Es beginnt beim Schutz von Menschen vor und der Rettung aus Katastrophen- oder Notlagen. Beispiele, die uns sicherlich in Erinnerung geblieben sind, ist das Hochwasser im Ahrtal 2021 oder die jüngsten Erdbeben in der Türkei oder in Marokko. Eine wichtige Rolle spielt auch die sichere Versorgung der Bevölkerung mit elementaren Gütern im Krisen- und Katastrophenfall sowie die Stärkung der Eigenvorsorge der Bevölkerung. Aber der Begriff umfasst ebenfalls die Erkennung und Bewältigung hybrider Bedrohungen, also verschiedener Formen der Einflussnahme durch fremde Staaten. Zum Einsatz kommt dabei ein breites Spektrum an Instrumenten. Dazu gehören unter anderem Cyberangriffe auf staatliche Stellen und Unternehmen, Sabotage von Kritischen Infrastrukturen, Einflussnahme auf freie Wahlen sowie Desinformationskampagnen. Und last but not least natürlich die Erkennung und Bekämpfung verschiedener Kriminalitäts- und Radikalisierungsphänomene.
Die zivilen Sicherheitsforschung entwickelt technische und nichttechnische Lösungen für solche Bedrohungen und Herausforderungen, um das Leben der Menschen sicherer zu machen.
Welche innovativen Technologien bieten heutzutage im Notfall schnell Hilfe?
Digitale Technologien unterstützen Rettungskräfte bereits bei Einsätzen, vereinfachen die Kommunikation in Krisenlagen und schützen kritische Infrastrukturen. Über Apps können freiwillige Ersthelfer in der direkten Umgebung eines Notfalls alarmiert werden, die dann bis zum Eintreffen der Rettungskräfte mitunter lebensrettende erste Hilfe leisten. Und dank einer digitalisierten Rettungskette kann beispielsweise durch das Konzept des Telenotarztes eine sichere und schnelle medizinischen Versorgung im Rettungsdienst bei gleichzeitig optimiertem Einsatz der „knappen Ressource Notarzt“ erfolgen.
In der Seenotrettung beispielsweise helfen Drohnen unter schwersten Wetterbedingungen dabei, über Bord gegangene Menschen aufzufinden. Dank der entsprechenden Sensorik übertreffen sie dabei insbesondere bei schwierigen Sichtverhältnissen das menschliche Auge bei Weitem. Der Einsatz von Drohnen ermöglicht es aber auch, schnell ein erstes Lagebild zu erstellen – etwa bei den Überschwemmungen im Ahrtal. Sie liefern Informationen, wo Menschen gerettet werden müssen und wo sich neue Bedrohungen bilden. Für ein genaues Lagebild müssen möglichst viele Informationen gebündelt und ausgewertet werden, um ein gemeinsames Agieren der verschiedenen Einsatzkräfte vor Ort zu gewährleisten. Insbesondere KI-basierte Technologien können solche Daten effizient verarbeiten und dienen damit nicht nur in akuten Notlagen als Entscheidungsgrundlagen, sondern bieten auch Daten zur Früherkennung und Vorbereitung. KI kann zum Beispiel Brände und Angriffe simulieren, verdächtige Finanztransaktionen erkennen oder Fake News identifizieren.
Vor welchen Herausforderungen steht die zivile Sicherheit aktuell?
In den Medien wird immer öfter über hybride Bedrohungen berichtet – beispielsweise in Form von Angriffen auf kritische Infrastrukturen wie etwa die Stromversorgung. Solche Angriffe auf cyberphysische Systeme kennen wir seit Langem, sie treten zurzeit jedoch intensiviert auf. Laut einer Bitkom-Studie entstehen dadurch jährlich Schäden in Höhe von 200 Milliarden Euro.
Ein neueres Phänomen sind gezielte Desinformationskampagnen. Das erleben wir im Hinblick auf den Informationsaustausch rund um den Ukraine-Konflikt oder gerade ganz aktuell auch im Nahen Osten. Hier streuen unterschiedliche Akteure weltweit bestimmte Narrative, um auf politische Positionen und die Stimmung in der Bevölkerung Einfluss zu nehmen. Eine große Herausforderung für die zivile Sicherheit ist, dass Desinformationen schnell Zugang zu jedem einzelnen Menschen finden, etwa durch Social Media. Während bei Angriffen im industriellen Bereich die Betreibenden Schutzmaßnahmen aufstellen, müssen wir die gesamte Bevölkerung, in die Lage versetzen, Fehlinformationen zu erkennen und mit diesen umzugehen.
Was muss passieren, damit wir auch in zehn Jahren in Deutschland sicher leben können?
Ich bin optimistisch, dass wir hier auch in Zukunft sicher leben können. Entscheidend ist, dass wir zivile Sicherheit wieder als Basis unseres Wohlstandes und unserer Freiheit verstehen. Denn die größte Bedrohung unserer zivilen Sicherheit werden möglicherweise wir selbst sein. Und damit meine ich jeden Einzelnen von uns. Wenn wir das Vertrauen in die Demokratie und den konstruktiven Dialog verlieren und stattdessen nur Hass, Hetze und Lügen in die Debatte um Lösungen für komplexe Herausforderungen einbringen, machen wir den Weg frei für Rattenfänger mit vermeintlich einfachen Lösungen. Und die haben Menschen immer wieder ins Verderben geführt. Wir müssen uns auf die Errungenschaften der Aufklärung besinnen und wehrhaft für unsere Demokratie und den gesellschaftlichen Zusammenhalt einstehen.
Sicherlich werden technologische Innovationen wie etwa auf der Basis von KI uns in den nächsten Jahren helfen, Informationen effizienter zusammenzuführen und zu verarbeiten, um so Bedrohungen frühzeitig zu erkennen und Entscheidungen zu treffen. Aber Technik allein macht unser Leben nicht sicherer. Es reicht beispielsweise nicht aus, durch neue Systeme wie Cell Broadcast zu warnen, wenn diese Warnung ohne Wirkung bleibt. Menschen müssen wissen, was in Krisensituationen zu tun ist. Eine wichtige Rolle spielt auch die Resilienz der Strukturen, damit diese selbst dann funktionieren, wenn die technische Kommunikation zusammenbricht.
Und zuletzt müssen wir die Menschen daran erinnern, sich selbst auf Notfallszenarien vorzubereiten. So wie man im Flugzeug darauf achtet, wo der nächste Notausgang ist - nach dem Motto „Don’t be scared, be prepared!“.
Wie ist das VDI TZ im Bereich zivile Sicherheit aktiv?
Seit 2007 sind wir der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) beauftragte Projektträger zum Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“. In dieser Rolle identifizieren wir geeignete Förderprojekte, beraten bei der thematischen Weiterentwicklung der Förderthemen und sind mit der Umsetzung der Nationalen Kontaktstelle Sicherheitforschung betraut, welche die deutschen Akteur*innen bei der Beantragung von Förderung im Bereich der zivilen Sicherheitsforschung auf europäischer Ebene unterstützt.
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Info und weiterführende Links
Über den Interviewpartner
Dr. Jörg Overbeck ist Leiter des Teilbereichs Sicherheitsforschung beim VDI Technologiezentrum. In dieser Funktion verantworten er und sein Team die Aktivitäten zur Projektträgerschaft im Programm „Forschung für die zivile Sicherheit“ des BMBF. Dazu gehören die fachliche und administrative Abwicklung von Forschungsprojekten, die Beratung bei der Gestaltung des Forschungsfeldes als auch begleitenden Maßnahmen wie Veranstaltungen und Publikationen.
Über #TZExpertise
Im Interview-Format #TZExpertise geben Expert*innen aus dem VDI Technologiezentrum regelmäßig exklusive Einblicke in ihre jeweiligen Fachbereiche sowie relevante Fragestellungen.