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VDI Research

Zukunft der Biologisierung im Alltag

Unser neues VDI-Research-Paper zeigt auf, wie Biologisierung zukünftig unser Leben beeinflussen könnte.

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Zukunft der Biologisierung des Alltags

Die letzten Jahre und Jahrzehnte haben eindrucksvoll gezeigt, wie schnell digitale Technologien unser Leben verändert haben. Die Digitalisierung beeinflusst als Enabler aber auch die Entwicklung anderer Technologien. In besonderer Weise gilt dies für die Biowissenschaften, aus denen heraus in Zukunft eine Biologisierung unseres Lebensumfeldes zu erwarten ist. Die Autoren vertreten die These, dass sich das Ausmaß wie auch die Herausforderungen der hier als Zukunftsbild beschriebenen Biologisierung des Alltags mit denen der Digitalisierung nicht nur vergleichen lassen, sondern diese in ihrer Tiefe und Intensität für den Einzelnen sogar übersteigen könnten.

Die Bedeutung der Biologisierung für Wirtschaft und Industrie zeichnet sich bereits heute ab. Sie wird, ähnlich wie die Digitalisierung, zu einem tiefgreifenden Wandel in der industriellen Wertschöpfung führen. Der politische wie gesellschaftliche Druck steigt, Konzepte wie Bioökonomie und Kreislaufwirtschaft nachdrücklich in die Praxis zu bringen. Um den offensichtlichen Folgen des Klimawandels entgegenzuwirken, sind neue Wertschöpfungsformen zur Bewahrung unserer Umwelt notwendig. Eine der größten Hürden stellen neben der technologischen Entwicklung die bisher noch höheren Kosten biobasierter Verfahren dar. Das Umdenken zu einer nachhaltigen Wertschöpfung hat in vielen Industriebereichen jedoch bereits begonnen.

Deutschland hat gute Voraussetzungen, durch seine Kompetenzen und Erfahrungen in relevanten Gebietenwie Produktion und Industrie 4.0, Biosensorik, Biowerkstoffe, Biowissenschaften (Biochemie, Biophysik, Bioinformatik, Nanobiotechnologie etc.) in der Biologisierung der Wirtschaft eine führende Rolle einzunehmen1. Eine Herausforderung besteht hier vor allem darin, verschiedene Disziplinen gezielt miteinander zu verknüpfen.

Neben der biologischen Transformation der Wirtschaft wird die Biologisierung in Zukunft auch für den Einzelnen im Alltag erhebliche Änderungen mit sich bringen. Dies nicht schlagartig von heute auf morgen, aber zahlreiche Einzelentwicklungen werden zusammengenommen und sukzessive Anwendungen ermöglichen, die unser tägliches Leben und unsere Beziehung zu uns selbst radikal verändern werden.

Entwicklung der Nutzbarmachung biologischer Systeme durch den Menschen

Bevor wir diesbezüglich einen visionären Blick in die Zukunft wagen, ist es hilfreich, für das Verständnis des Fortschreitens der Biologisierung die wesentlichen Entwicklungsschübe zu betrachten. Diese veranschaulichen, wie sich der Mensch die Natur schrittweise in neuen Dimensionen nutzbar macht. Vereinfacht lassen sich Entwicklungsschübe formulieren, die nicht alle Anwendungen zwangsläufig linear durchlaufen.

  • Stufe 1: Schon sehr früh nutzte der Mensch natürliche Organismen wie Hefepilze (zum Brotbacken), so wie sie in der Natur vorkamen, ohne Zuhilfenahme besonderer technischer Hilfsmittel (vgl. Abbildung 1).
  • Stufe 2: Mit zunehmender Technisierung wurden spezifische Fähigkeiten entwickelt, natürliche Systeme bzw. ihre Komponenten (Organismen, Zellen oder Moleküle) mit immer komplexerer Technik zu kombinieren. So können naturbasierte Produkte biotechnologisch in großen Mengen und gleichbleibender Qualität hergestellt werden. Durch Einsatz technischer Hilfsmittel wie Biosensoren gelang es, in lebende Systeme „hineinzuschauen“ und ihre Funktionsweise immer besser zu verstehen.
  • Stufe 3: Mit fortschreitenden Kenntnissen in Genetik und Molekularbiologie gelang es dann, das Erbgut natürlicher Systeme genetisch zu verändern. Dieses „Umprogrammieren“ ist hier in Abgrenzung zur nächsten Entwicklungsstufe als einmaliger Eingriff in das biologische System zu verstehen. Auf diese Weise können z. B. Bakterien in die Lage versetzt werden, in großen Fermentern bestimmte, ihnen eigentlich fremde Eiweiße wie Antikörper in großen Mengen zu produzieren.
  • Stufe 4: Die nächste Entwicklungsstufe, an deren Beginn wir uns gerade befinden, beschreibt die Möglichkeit, mit natürlichen Systemen digital über Daten zu kommunizieren. Hier wird in Echtzeit eine bidirektionale Kommunikation mit Teilen bis hin zum gesamtenbiologischen System angestrebt. Das heißt, der Mensch kann biologische (Teil-)Systeme – und damit auch sich selbst – digital erfassen, beeinflussen und steuern.

Fortschritte in biologischen Verfahren, wie die Vorhersage dreidimensionaler Eiweißstrukturen, sind u. a. durch künstliche Intelligenz und Bioinformatik wesentlich beeinflusst worden.2 Aber auch umgekehrt führt das vertiefte Verständnis biologischer Systeme zur Weiterentwicklung digitaler Anwendungen. Exemplarisch sei hier auf natürliche neuronale Netze und ihre Bedeutung für die Computerentwicklung verwiesen. Durch diese Konvergenz und wechselseitige Stimulation von Biologisierung und Digitalisierung wird die Bedeutung der Biologisierung für die zukünftigen tiefgreifenden Veränderungen in Wirtschaft, Umwelt, Gesellschaft sowie unserem Alltag noch verstärkt.

Die möglichen Anwendungen der Biologisierung unseres Alltags sind vielfältig. Wesentliche Intention der Autoren ist, die einzelnen Facetten möglicher zukünftiger Entwicklungen in Form eines Gesamtbildes zu vermitteln. Die Darstellung ist nicht als enthusiastisches Loblied auf technische Möglichkeiten zu verstehen, sie dürfen aber auch nicht verteufelt werden. Es geht darum, absehbare potenzielle soziotechnische Innovationen unseres zukünftigen Alltags frühzeitig bewusst zu machen und damit auch aktiv mitgestalten zu können.

Im Folgenden wird zunächst anhand einiger Beispiele ein grobes Gesamtbild unseres künftigen möglichen Alltags entworfen. Im Anschluss daran werden die Herausforderungen dieser Entwicklungen für die Gesellschaft beleuchtet. Aus Gründen der Anschaulichkeit und des hier zur Verfügung stehenden Rahmens wurden die unterschiedlichen Realisierungszeithorizonte der verschiedenen Anwendungen nicht differenziert.

Einige Anwendungen erscheinen futuristisch oder provokant, aber zu allen Beispielen gibt es heute erkennbare Ansätze, die keinesfalls als pure Utopien abgetan werden können. Auch wenn für die meisten Anwendungen noch erhebliche Entwicklungsarbeiten notwendig sind, wird es an einigen Stellen schneller gehen, als es aus heutiger Sicht absehbar ist.

Selbstvermessung und Biosensoren

Beginnen wir unsere kleine Reise in die Zukunft mit dem Thema Selbstvermessung. Diese ist ein Beispiel für das Zusammenwirken des Organismus des Menschen mit intelligenter Technik. Hier werden verschiedenste Zustandsdaten unseres Körpers ausgelesen und kontinuierlich verfügbar macht. Die Selbstvermessung der Vitalfunktionen des eigenen Körpers über smarte Uhren, Armbänder und Waagen ist bereits im Alltag angekommen und erfreut sich großer Nachfrage.3

Mit externen Sensoren werden Tag und Nacht große Datenmengen gesammelt, in Clouds gespeichert, über Apps ausgewertet und oft auch mit Gleichgesinnten geteilt. Die (Weiter-)Entwicklung von Biosensoren ermöglicht eine stetige Miniaturisierung sowie vielfältigere Messfunktionen. Schon entwickelt ist z. B. ein Pflaster, das sowohl kardiovaskuläre Daten wie Herzfrequenz und Blutdruck als auch biochemische Werte wie Glukose, Milchsäure, Koffein und Alkohol anzeigt.4  Tätowierfarben, die den Glukosespiegel oder den pH-Wert über Hauttattoos anzeigen, sind ebenso wie Wundpflaster, die signalisieren, wann sie gewechselt werden müssen, im Grundsatz bereits entwickelt.5

Biosensoren in Hautpflastern oder als Implantat werden zukünftig zeigen, wie hoch der Cholesterinspiegel ist, ob Drogen konsumiert wurden, eine Schwangerschaft vorliegt oder eine (Virus-)Infektion. Über die Analyse von Hormonen lässt sich dann auch feststellen, wie hoch das momentane Stresslevel ist.6 Biosensoren verfügen neben der biologischen Komponente, die als Rezeptor zur Erkennung spezifischer Moleküle dient, auch über eine physikalische Komponente, die die biochemische Reaktion in ein elektrisches Signal zur weiteren Verarbeitung umwandelt. Durch die digitale Ankopplung stehen die Daten in Echtzeit zur Verfügung und können in Zukunft den individuellen digitalen Zwilling eines Menschen mit Leben füllen.7

3-D-Lebensmitteldrucker

Biosensoren werden sich in Zukunft nicht nur an oder in uns befinden, sondern auch in unserer alltäglichen Umgebung. Diese erfassen im städtischen Abwassersystem systematisch, in welchen Bezirken der Kokainverbrauch wie hoch ist oder von wo sich gerade eine Virusinfektion ausbreitet.8 Auch vom WC der Zukunft kann kontinuierlich gemessen werden, ob Anzeichen für Krankheiten oder Mangelerscheinungen vorliegen.9 Bei der Zubereitung unseres Mittagessens über einen 3-D-Lebensmitteldrucker kann diesem Mangel dann über geeignete Zusätze zeitnah gegengesteuert werden.

Derartige 3-D-Lebensmitteldrucker befinden sich bereits im kommerziellen Einsatz. So kann damit bereits ein rein pflanzlich hergestellter Lachs einschließlich seiner typischen Textur sehr gut imitiert werden. Geschmacklich soll kein Unterschied zum Original feststellbar sein.10 Es ist davon auszugehen, dass in weniger als zehn Jahren 3-D Lebensmitteldrucker in den Küchen vieler Haushalte zu finden sein werden und Lieblingswurst (engl. clean meat11) oder -käse nach eigenen Rezepten produziert werden können.12 Grundsätzlich wird zukünftig ein immer größerer Anteil der Nahrungsmittelproduktion durch zelluläre Landwirtschaft13, Bioreaktoren14 oder Plantcubes15 sowie durch Indoor/Vertical Farming in Supermärkte in unserer direkten Umgebung verlagert werden.16 Die Lebensmittelproduktion wird auf diese Weise individualisierter und nachhaltiger.

 

Medizinische Diagnosen und Prothesen

Die Fortschritte der Biosensorik ermöglichen verbesserte medizinische Diagnosen, ohne eine Ärztin oder einen Arzt persönlich aufzusuchen. In Kombination mit künstlicher Intelligenz bzw. maschinellem Lernen werden Fehlfunktionen, Vitaminmängel oder Haltungsprobleme frühzeitig erkannt und unmittelbarer therapierbar. Personalisierte Genomsequenzierungen werden die Möglichkeiten der Selbstvermessung erweitern.

Schon jetzt bietet ein großer Versandhandel über eine Speichelprobe einen DNA-Test für 130,– Euro an. Ohne Arztbesuch zeigt er (Un-)Verträglichkeiten mit mehr als 150 Medikamenten und genetische Veranlagungen für 180 Krankheiten an.17 Derartige DNA-Profile werden in absehbarer Zeit auch Hinweise zu persönlichen Prädispositionen ermöglichen.18 Dies reicht von Prädispositionen für suizidales19 oder gewalttätiges Verhalten bis hin zur Veranlagung für Schizophrenie20 oder Depressivität21. Online konsultiertes medizinisches Fachpersonal bekommt durch diese Form der Selbstvermessung ein viel umfangreicheres (Krankheits-)Bild von ihren Patientinnen und Patienten. Nicht nur, dass verschiedenste Funktionen gemessen und gespeichert werden, die Dynamik kann kontinuierlich über einen langen Zeitraum verfolgt werden. So entstehen individuelle Datenschätze, die nicht nur früherkennende oder gar prädikative Bedeutung haben, sondern auch für Gesundheitssystem und medizinische Forschung von hoher Bedeutung sind. Technische Bauteile werden immer mehr Körperteile als Endo- und Exoprothesen ersetzen können.

Die künstlichen Ersatzteile verfügen dann im Vergleich zum Original nicht nur über die wiederherzustellenden Funktionen. Sie ermöglichen darüber hinaus Leistungssteigerungen oder können Eigenschaften aufweisen, über die Menschen normalerweise oder zumindest an dieser Körperstelle bisher nicht verfügen. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der farbenblinde zeitgenössische Künstler Neil Harbisson, der mithilfe eines implantierten Chips und einer fest am Kopf angebrachten Kamera schon 2004 in der Lage war, Farben zu hören. Die Kamera identifiziert in Blickrichtung liegende Farben, die in entsprechende Schallwellen „übersetzt“ und durch einen Lautsprecher am Ohr wahrgenommen werden. 22

Ein weiteres Beispiel stellt synthetisches Blut dar, das Organe bei Durchblutungsstörungen besser mit Sauerstoff versorgen könnte als natürliches Blut.23 Miniaturisierte mobile Roboter werden im Körper gezielt Wirkstoffe an die richtige Körperstelle transportieren, beispielsweise zur Krebsbekämpfung, oder auch Messungen über Biosensoren vornehmen.24

Für das Bioprinting mittels 3-D-Drucker werden i. d. R. körpereigene Zellen verwendet, um individuelle Gewebe oder Organe zu rekonstruieren. Hierzu werden unspezialisierte Zellen des Patienten verwendet, die sich noch nicht für ihre spezielle Aufgabe im Körper ausdifferenziert haben (Stammzellen). Erste „Miniatur“- Druckerfahrungen liegen u. a. vor für: Herz mit Herzkammern25, Eierstock26, Leber27 sowie (Augenhorn-) Haut28 und Knorpelstrukturen29.

Gensequenzierung, mRNA und Epigenik

Eine weitere Entwicklungsstufe der Biologisierung wurde durch die Fähigkeit erreicht, Gene (auch mithilfe der Bioinformatik) zu sequenzieren, ihre jeweilige Funktion zu erfassen und gezielt zu verändern. Schon vor über 40 Jahren wurde so menschliches Insulin aus gentechnisch rekombinanter DNA hergestellt.

Es folgten weitere Biopharmazeutika wie Blutgerinnungsfaktoren, Impfstoffe oder Antikörper. Durch immer präzisere molekularbiologische Verfahren wie die programmierbare Genschere CRISPR-Cas lässt sich DNA quasi beliebig „umschreiben“. Die Gentherapie bekam damit ein wesentliches Handwerkszeug, um fehlerhafte Gene direkt in der Zelle zu reparieren oder fremde DNA z. B. von Viren gezielt zu entfernen. Eine solche Korrektur kann in Körperzellen (somatische Gentherapie) oder in Keimbahnzellen (Ei- und Spermazellen) vorgenommen werden. Änderungen in den Keimbahnzellen werden an die Nachkommen weitergegeben. Ein Anwendungsbeispiel ist, körpereigene Immunzellen gentechnisch so zu verändern, dass sie über künstliche Rezeptoren an ihrer Oberfläche verfügen.

Die Rezeptoren dieser sogenannten CAR-T-Zellen erkennen dann Krebszellen und zerstören sie.30 Vom Prinzip her könnten durch Gentherapie die meisten Erbkrankheiten, aber auch im Laufe des Lebens erworbene Krankheiten wie Krebs und Infektionskrankheiten wie AIDS etc. geheilt werden31. Gentherapie ist prinzipiell eine effektive Therapieform, da sie direkt an der Krankheitsursache angreift.

Bei einem anderen Weg wird die DNA im Zellkern zwar nicht verändert, aber die Zelle kann vorübergehend trotzdem dazu gebracht werden, Eiweiße zu produzieren, die natürlicherweise nicht in ihr vorkommen. Die sogenannte mRNA (Boten-RNA) transportiert die Erbinformation einzelner Gene aus dem Zellkern in die Zelle. Sie enthält normalerweise den Bauplan für ein definiertes Eiweiß, wie z. B. ein Enzym. Anwendungsbeispiele der mRNA-Technologie sehen wir gegenwärtig bei den Impfstoffen gegen die Coronaviren. Die eigentliche Erbinformation der Zelle wird nicht verändert, aber es wird der Bauplan für ein (harmloses) Eiweiß des Erregers in die Zelle gebracht. Dieses Fremdeiweiß wird dann von der Zelle produziert und anschließend vom Immunsystem als Antigen erkannt.32

Einen weiteren Ansatz verfolgt die Epigenetik (epi altgriechisch: außerdem). Auch bei ihr wird nicht die eigentliche Erbinformation der Zelle verändert. Sie nutzt andere natürlich vorhandene Mechanismen, um durch Einflüsse der Umgebung das Ablesen von Genen zu steuern. Epigenetische Marker können im Falle traumatischer Erlebnisse sogar an die Nachkommen weitergegeben werden. Sie spielen u. a. bei Depressionen, Schizophrenie oder Übergewicht eine Rolle. Es wird erwartet, dass zukünftig über die Epigenetik gezielt in die Steuerung von Zellen eingegriffen werden kann, um Krankheiten behandeln zu können.33

Verbindung von Gehirn und Computer

Die Fortschritte der Neurowissenschaften in Verbindung mit digitalen Technologien markieren die bisher höchste Entwicklungsstufe der Biologisierung hinsichtlich der bidirektionalen Kommunikation und Steuerung lebender Systeme. Die Anfänge gehen auf das Jahr 1958 zurück, als der erste Herzschrittmacher implantiert wurde. Dieser steuert die regelmäßige Kontraktion des Herzmuskels durch elektrische Nervenstimulation. Heute verfügen Herzschrittmacher über Sensoren zur Überwachung der Herzaktivität und können bidirektional von außen gesteuert werden. Auch Cochlea-Implantate für Schwerhörige senden, allerdings unidirektional, die Informationen des Schalls als elektrische Impulse direkt an die Fasern des Hörnervs.

Letztendlich geht es um das Ziel, Prozesse in biologischen Systemen von der einzelnen Zelle bis zum ganzen Organismus digital steuern zu können. Das Gehirn als Steuerzentrale ist für die Neurowissenschaften daher von besonderer Bedeutung. Die Verbindung zum Gehirn kann nicht invasiv oder invasiv erfolgen, wie beispielsweise über immer kleinere/leichtere EEG-Hauben (Elektroenzephalographie) oder über nur wenige Millimeter große Chips mit Tausenden Elektroden (Kontaktstellen), die auf der Hirnhaut aufliegen oder in das Gehirn hineinreichen.

Gehirnströme können auf diesem Weg ausgelesen und mithilfe künstlicher Intelligenz über Mustererkennung ausgewertet werden. Aktivitätsmuster des Gehirns können bereits gegenwärtig zur Bewegung realer oder virtueller Objekte eingesetzt werden. Querschnittsgelähmte können auf diese Weise ihren Rollstuhl steuern, Armprothesen können ebenso bewegt werden wie auch ein Computercursor. Es existieren erste Ansätze, mittels EEG-Hauben Gedanken zu erfassen. Die Echtzeitverarbeitung von Bildern führt zu Aktivitätsmustern im Gehirn, die Rückschlüsse auf das betrachtete Bild erlauben.34

Mehrere Firmen arbeiten bereits an einer direkten Verbindung von Gehirn und Computer35. Diese sogenannten Gehirn-Computer-Schnittstellen (engl. brain-computer interface, BCI) sollen nicht nur Informationen auslesen können (passive BCI), sondern auch aktiv das Gehirn mit Impulsen versehen, um es zu beeinflussen.

Aktive BCI könnten dann z. B. zur Behandlung von Schmerzen36, Depressionen37, Rückenmarksverletzungen38 oder zur Entspannung39 eingesetzt werden. Einige Akteure träumen davon, die Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns mittels angekoppelter künstlicher Intelligenz zu steigern. Neue Sprachen könnten so in wenigen Sekunden „erlernt“ werden. Andere beschreiben die Vision, den Menschen durch eine BCI mit einem permanenten direkten Zugang zum Internet zu versehen (Internet of Humans).40

 

Kritische Punkte: Selbstvermessung

Die Vielfalt der skizzierten Anwendungen lässt erahnen, wie hoch das Veränderungspotenzial für unseren Alltag in Zukunft sein wird. Leider wachsen mit dem Nutzen technischer Errungenschaften und den verwobenen sozialen Innovationen auch die Herausforderungen und bisher ungeregelte Möglichkeitsgrenzen drastisch an. Notwendige Rahmenbedingungen ethischer Art in vielfältigen Facetten müssen frühzeitig erfasst und über geeignete gesellschaftliche Konsensprozesse reflektiert werden, um noch in der Entwicklung dieser Technologien berücksichtigt werden zu können. Im Folgenden werden daher, wie oben angekündigt, einige kritische Punkte deraufgeführten Anwendungsbeispiele im gesellschaftlichen Kontext andiskutiert und erste sich daraus ergebende Fragen aufgeworfen.41

Mit den umfangreicheren Möglichkeiten der Selbstdiagnose wird sich das Gesundheitsverständnis verändern. Präventionsmedizin, d. h. Krankheitsvermeidung durch frühzeitige Diagnosen in Verbindung mit Verhaltensänderungen, rückt in den Vordergrund. Dies impliziert zugleich ein Anwachsen der Selbstverantwortung für den alle Menschen, sich um ihre eigene Gesundheit zu kümmern. Wer vermeidbare Krankheiten bekommt, trägt zunehmend wachsende reale oder zumindest eine von außen gesehene „Mitschuld“. Was passiert im Falle der Voraussage einer schweren Krankheitsprädisposition, wenn Betroffene dieser Diagnose durch ihr Verhalten nicht entgegenwirken? Verliert die Person dadurch (teilweise) Anspruch auf seine Kostenerstattung durch die Krankenkasse? Ergibt sich dadurch zwangsläufig ein stärkerer Kontrollzwang? Kommt es hierdurch zu einer partiellen Entsolidarisierung der Gesellschaft? Werden neue Formen der Solidarität durch den Austausch von Gesundheitsdaten entstehen?

Die gesamte persönliche Krankengeschichte wird digital vorliegen. Wer erhält wie Zugriff auf die Daten (Treuhandmodell für persönliche Daten)? Wie sicher sind die Daten, wenn sie mithilfe künstlicher Intelligenz generiert und verwaltet werden? Welche Möglichkeiten der Erpressung ergeben sich, wenn die Daten in falsche Hände geraten (vgl. Verschlüsselung als Erpressungsmotiv von Computern)? Was geschieht, wenn persönliche Daten durch ein Versehen der Nachbarschaft, den Arbeitgebenden oder Versicherungsgesellschaften zugänglich wurden? Dies gilt auch für andere Daten, die zunehmend zentralisierter erfasst werden können (Einkaufs-/Ernährungsverhalten, Energieverbrauch/ persönlicher ökologischer Fußabdruck etc.)?

Wie können einzelne Personen mit ihrer persönlichen Datenflut und der Datafizierung überhaupt umgehen? Müssen Regulierungen den in diesem Bereich agierenden Unternehmen den Umgang mit diesem Daten vorgeben und deren Offenlegung erst durch massive Eingriffe abtrotzen (DSGVO)? Wird ein „Social Credit System“ nach chinesischem Vorbild vermeidbar? Die Vermessung und ihre Interpretation sind selten wertneutral. Wie werden diese Werte bestimmt und wie offengelegt?

Selbstvermessung führt zu Vergleichbarkeit mit anderen Menschen. Schon heute vergleichen wir automatisiert unsere sportlichen Leistungen mit unserem Freundeskreis und Bekannten. Steigt der Umfang an Selbstvermessung und damit die Vergleichbarkeit weiter an, könnte sich eine verstärkte Unzufriedenheit mit unserem Körper und unseren Leistungen einstellen. Wächst dadurch der gesellschaftliche Druck, sich selbst zu optimieren, weil andere in unserer Umgebung dem bereits nachkommen? Vertieft sich die Teilung der Gesellschaft durch die Biologisierung in Teilnehmende/Teilhabende und Verweigerer?

Kritische Punkte: Selbstverbesserung

Der Wunsch nach Selbstverbesserung ermöglicht ein aus heutiger Sicht kaum fassbares Angebot an Tuningmöglichkeiten. Intelligente Prothesen oder Implantate können nicht nur Schwächen ausgleichen, sondern uns leistungsfähiger machen als unsere Mitmenschen. Ein blinder Mensch, der die Möglichkeit hat, dieses Handicap durch ein Implantat zu beheben, nutzt vielleicht die Gelegenheit, sich mit einem Premiumimplantat die Fähigkeit einzukaufen, zusätzlich bei Dunkelheit sehen zu können. Wäre ein solcher Mensch schon ein Cyborg, also ein kybernetischer Organismus (engl. cybernetic organism), der technisch verändert wurde? Oder wird es in Zukunft normal sein, dass auch Gesunde ihre Fähigkeiten erweitern, um im Dunkeln sehen zu können? Vielleicht würden Arbeitgebende ihren Angestellten, z. B. Objektschützern, die Nachtsichtfähigkeit nahelegen oder sogar finanzieren. Oder wird besondere Leistungsfähigkeit eine Frage des Geldes, die Besserverdienenden vorbehalten bleibt?

Wenn die Schwelle überschritten wird, Krankheiten mittels Gentherapie gar nicht erst ausbrechen zu lassen, ist es nur ein kleiner Schritt, auch bei Schönheit oder Leistungsfähigkeit etwas nachzuhelfen. Die Grenzen sind hier fließend. Müssen Eltern sich zuküntig den Vorwurf der Verantwortungslosigkeit gefallen lassen, wenn sie nach pränataler Diagnose Gendefekte bei ihren Nachkommen nicht beseitigen lassen oder keine möglicherweise lebensverlängernden genetischen Weichen42 stellen? Auch hier muss wieder die Frage nach den zugrunde liegenden gesellschaftlichen Werten einschließlich eines möglichen Wertewandels gestellt werden. In welchem Maß und in welchen Schritten verändern sich gesellschaftliche Werte unmerklich im Verlauf ständig wachsender Möglichkeitssteigerungen durch die Biologisierung unserer Gesellschaft? Auf den politischen sowie gesellschaftlichen Handlungsbedarf hinsichtlich der Anwendungen um Gendiagnostik und -therapie weist auch die aktuelle Studie aus Großbritannien „Genomics Beyond Health“ des Government Office for Science hin.43

Kritische Punkte: Neurotechnologien

Eine vergleichbare Argumentation lässt sich zu den Anwendungsmöglichkeiten der Neurotechnologien anführen. Die Therapie von Schmerz und die Behandlung chronischer Schlafprobleme böte vielen Betroffenen eine Rückkehr in ein „normales“ Leben. Mit den gleichen Mitteln könnten Soldatinnen und Soldaten schmerzunempfindlicher/-freier und dadurch kampffähiger gemacht werden. Eine gezielte Schlafsteuerung könnte auch zu einer deutlichen Leistungssteigerung verhelfen. Auch eine BCI mit permanenter Internetverbindung hätte, wenn auch gegenwärtig noch fern liegend, weitreichende Folgen. Viele Dinge müssten nicht mehr (auswendig) gelernt werden, sie könnten jederzeit unauffällig „nachgeschlagen“ werden. Genauso unmerklich könnte dann, was der Mensch mit seinen Augen erblickt, als Video aufgezeichnet werden. Das Ende der Diskretion? Kann unser Gehirn zukünftig dann von außen gehackt werden und so Gefühle oder Erlebnisse verändert, gelöscht oder eingeschrieben werden?

Die tatsächliche Fusion biologischer und künstlicher bzw. maschineller Intelligenz ginge in ihren Konsequenzen noch erheblich weiter. Der Mensch müsste sich dann nicht mehr vor der Überlegenheit künstlicher Intelligenz fürchten, so der Traum von Transhumanisten wie Elon Musk.44 Alles nur Science-Fiction? Die Beratungsorganisation „Policy Horizons“ der kanadischen Regierung hat unter dem Titel „Exploring Biodigital Convergence“45 in einem Dokument aus dem Jahre 2020 die biodigitale Konvergenz untersucht und die sich aus ihr ergebenden „Chancen“ aufgezeigt.

Im Vorwort der Generaldirektorin Kristel Van der Elst heißt es: „Biological and digital systems are converging, and could change the way we work, live, and evenevolveas a species. More than a technological change, this biodigital convergence may transform the way we understand ourselves and cause us to redefine what we consider human or natural.“ Im Dokument wird unter „Biodigital convergence is opening up striking new ways to“ weiter angeführt: „Change human beings – our bodies, minds, and behaviours.“ Die Zeilen machen deutlich, dass das Thema Transhumanismus bereits heute auf politischer Ebene angekommen ist.

 

Fazit

Die Auswahl der hier vorgestellten Anwendungsbeispiele macht die Notwendigkeit eines gesellschaftlichen Bewusstseins für die bevorstehende Biologisierung des Alltags deutlich. Es könnte sich zeigen, dass mit der Biologisierung vieler Bereiche unseres Alltags die gegenwärtig erlebte Digitalisierung unserer Gesellschaft bezüglich ihrer Möglichkeiten und Wirkungen noch übertroffen wird. Wir brauchen eine gesellschaftliche Auseinandersetzung, um aufzuklären und zu sensibilisieren. Letztendlich müssen Leitbilder generiert werden, die absehbare Entwicklungen in die richtige Richtung zu lenken. Im Ausbildungsbereich müssen frühzeitig Weichen gestellt werden, um Fachkräfte zu haben, die disziplinübergreifend konsensfähige Lösungen für den gesellschaftlichen Diskurs vorbereiten und deren Ergebnisse umsetzen können. Deutlich geworden ist, dass Innovationen in der Biologisierung ein erhebliches Umdenken nicht nur für unsere Gesellschaft, sondern auch für den Alltag des Einzelnen mit sich bringen werden.

 

Ihre Ansprechpersonen

VDI Research
Prof. Dr. Dr. Axel Zweck
Dr. Matthias Braun
E-Mail: braun@vdi.de

Quellen und weiterführende Links

1 Biointelligenz – Eine neue Perspektive für nachhaltige industrielle Wertschöpfung, Stuttgart, Fraunhofer Verlag (2019)

2 https://cordis.europa.eu/article/id/428616-trending-science-artificial-intelligence-solves-50-year-old-biology-mystery/de

3 https://www.vditz.de/service/publikationen/details/prinzipien-und-potenziale-digitaler-selbstvermessung

4 https://healthcare-in-europe.com/de/news/blutdruck-biochemie-per-sensor-pflaster-messen.html

5 https://www.pharmazeutische-zeitung.de/bei-zuckeranstieg-farbumschlag/

6 https://www.golem.de/news/cortisol-wearable-soll-stresshormon-im-schweiss-erkennen-koennen-1807-135620.html

7 https://www.vditz.de/service/publikationen/details/digitale-zwillinge-heute-schon-weit-verbreitet-morgen-allerorten

8 https://www.swr.de/wissen/odysso/was-das-abwasser-preisgibt-100.html

9 https://www.elektronikpraxis.vogel.de/smarte-toilette-erkennt-krankheiten-a-928821/

10 https://www.zeit.de/zeit-magazin/wochenmarkt/2021-11/vegan-fisch-3d-drucker-lachs-revo-foods-wochenmarkt?utm_refer-rer=https%3A%2F%2Fwww.google.de%2F

11 https://www.emb.fraunhofer.de/de/clean-meat.html

12 https://www.handelsblatt.com/unternehmen/mittelstand/familienunternehmer/redefine-meat-dieses-start-up-entwickelt-steaks-aus-dem-3d-drucker/25982952.html?ticket=ST-170382-6IMX5WBB7ROc0pewOTsT-cas01.example.org

13 https://dash.harvard.edu/handle/1/38573490

14 https://www.3dnatives.com/de/cellpod-inkubator-141120161/

15 https://de.agrilution.com/

16 https://www.sueddeutsche.de/wirtschaft/lebensmittelhandel-ernten-im-supermarkt-1.5232181

17 Amazon, DNA-Test Advanced tellmeGen

18 https://www.spektrum.de/news/wie-gene-unsere-persoenlichkeit-beeinflussen/1687842

19 https://www.laborpraxis.vogel.de/genetische-veranlagung-und-suizidrisiko-a-871431/

20 https://www.psych.mpg.de/848212/schizophrenie

21 https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/psychiatrie-psychosomatik-psychotherapie/stoerungen-erkrankungen/depres-sionen/ursachen/

22  http://www.brainstormmag.co.za/technology/14345-becoming-a-real-life-cyborg

23  https://www.scinexx.de/news/biowissen/forscher-entwickeln-kuenstliches-blut/

24 https://www.newscientist.com/article/2144050-tiny-robots-crawl-through-mouses-stomach-to-heal-ulcers/

25 https://www.scinexx.de/news/medizin/erstes-vollstaendiges-herz-aus-dem-3d-drucker/

26 https://3druck.com/forschung/kuenstliche-eierstoecke-3d-druck-2487453/

27 https://www.3dnatives.com/de/brasilianische-bio-forscher-drucken-ein-mini-leber-in-3d-in-90-tagen-271220191/

28 https://www.3dnatives.com/de/hornhaut-3d-druck-030620191/

29 https://www.3dnatives.com/de/ohrtansplantation-mit-3d-druck/

30 https://www.krebsgesellschaft.de/onko-internetportal/basis-informationen-krebs/krebsarten/non-hodgkin-lymphome/car-t-zell-therapie-wichtige-fragen-antworten.html

31 https://www.pharma-fakten.de/news/details/1035-gen-und-zelltherapien-eine-neue-aera-der-medizin/

32 https://www.spektrum.de/news/der-siegeszug-der-mrna-impfstoffe/1937407

33 https://www.laborpraxis.vogel.de/chronisch-krank-machende-epigenetische-veraenderungen-ausradieren-a-777533/

34 https://www.heise.de/tp/features/Gedankenlesen-mit-EEG-und-KI-4577131.html

35 https://neuralink.com/ https://www.paradromics.com/ https://www.ceregate.com/

36 https://www.businessinsider.de/gruenderszene/health/ceregate-startup-gehirn-computer-interface/

37 Technology Review, 8/2021, S. 24, Gehirnimplantat gegen Depressionen

38 https://www.spektrum.de/magazin/querschnittlaehmung-wieder-laufen-dank-neuer-behandlungen/1667080

39 Technology Review, 8/2021, S.26, Meditation ohne Mühe?

40 https://digital-commerce.post.ch/de/pages/blog/2021/internet-of-humans

41 Zu einigen Fragestellungen liegen schon länger umfangreichere Ausführungen z. B. des Büros für Technikfolgen-Abschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB; www.tab-beim-bundestag.de) vor. Aufgrund der Intention, die Gesamtheit der Themen darzustellen, kön- nen diese hier nur andiskutiert werden.

42 https://www.stifterverband.org/video/de_grey_how_we_will_beat_aging

43 https://www.gov.uk/government/publications/genomics-beyond-health

44 https://www.businessinsider.de/tech/elon-musks-neuralink-sammelt-investitionen-in-hoehe-von-27-millionen-2017-8/

45 https://horizons.gc.ca/en/2020/02/11/exploring-biodigital-convergence/

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