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Relativer Alterseffekt

Unser neues VDI-Research-Paper geht der Frage nach, ob die Jüngsten eines Jahrgangs in Sport und Schule benachteiligt werden.

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Relativer Altereseffekt

Werden die Jüngsten eines Jahrgangs in Sport und Schule benachteiligt?

Von 26 deutschen Fußball-Nationalspielern sind elf in den ersten drei Monaten eines Jahres geboren, berichtet die Sportschau im August 2021.1 „Teilweise liegt das Verhältnis in den Auswahlmannschaften bei 80:20 von im ersten Halbjahr geborenen zum restlichen Jahrgang“, wird Damir Dugandzic als sportlicher Leiter des DFB-Talentförderprogramms zitiert. Dieser sogenannte relative Alterseffekt bei Fußballspielern findet Beachtung in den Massenmedien.2 Für den Effekt gibt es eine einfache Erklärung: Spielerinnen und Spieler werden nach ihrem Geburtsjahr in Jahrgängen zusammengefasst, die gemeinsam trainieren und Wettkämpfe bestreiten. Innerhalb eines Jahrgangs sind die im Januar geborenen Kinder fast ein Jahr älter als die im Dezember geborenen. Im Durchschnitt sind die Älteren eines Jahrgangs körperlich reifer als die Jüngeren3 und werden so teils als talentierter wahrgenommen. Überraschend ist, dass sich diese Unterschiede bis ins Profi-Alter auswirken und selbst eine professionelle Talentsichtung die Folgen relativer Altersunterschiede innerhalb eines Jahrgangs offensichtlich nicht vollständig ausgleicht.4

Auch in Schulen werden Kinder bezogen auf einen bestimmten Stichtag nach ihrem Alter in Jahrgangsstufen aufgeteilt. Es ergibt sich die Frage, inwieweit es dort vergleichbare Phänomene gibt. Naheliegend erscheint die Annahme, dass ein Kind, das fast ein Jahr älter ist als ein anderes, in der Regel besser lesen, schreiben und rechnen kann. Gerade in der Grundschule sind die relativen Altersunterschiede besonders groß. Eine aktuelle, systematische Übersichtsarbeit5 kommt zu dem Ergebnis, dass es signifikante Unterschiede gibt, die relativ ältere Schulkinder begünstigen, und zwar in Bezug auf kognitive, motorische und sozio-emotionale Leistungen. Es wird betont, dass relative Alterseffekte zwar mit steigendem Alter abnehmen,6 sich jedoch längerfristig bis ins Erwachsenenalter auf die weitere Ausbildung, das Einkommen sowie Familienersparnisse auswirken können.

Im Einzelnen weist beispielsweise Votteler7 auf Studien hin, die relative Alterseffekte im Bildungskontext belegen. Zu nennen sind häufigere psychologische Störungen (z. B. ADHS8), Lernschwierigkeiten, eine subjektiv höher wahrgenommene schulische Belastung bei relativ Jüngeren gegenüber kognitiven Leistungsvorteilen und häufigerer Wahl relativ Älterer in repräsentative Ämter (z. B. Schulsprecher) sowie häufigere Aufnahme in Förderprogramme der Begabungsförderung und häufigere Qualifikation für weiterführende Schulen und Universitäten.

Dabei ist stets zu beachten, welche Schulsysteme und Länder in der jeweiligen Studie untersucht wurden. Eine aktuelle Übersichtsarbeit der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD)9 nutzt Daten aus dem „Programme for International Student Assessment“ (PISA) und bietet eine vergleichende Analyse. Dabei werden die Regularien für die Einschulung in über 45 Ländern und Volkswirtschaften beschrieben und erörtert, inwieweit das Geburtsdatum Auswirkungen auf schulische Leistungen hat. Die Studie zeigt, dass es in mehreren Schulsystemen Einfluss auf das Selbstvertrauen und insbesondere auf die selbst wahrgenommene Kompetenz und Selbstwirksamkeit sowie auf künftige Bildungsergebnisse hat, das jüngste Kind in der Einschulungskohorte zu sein.

Eine aktuelle, auf Deutschland bezogene Arbeit untersucht eine Stichprobe von 18.956 Viertklässlern mit normativem Schulverlauf – also Schulkinder, die nie sitzen geblieben sind oder eine Klasse übersprungen haben. Diese Studie findet im Gegensatz zu der Vielzahl der oben aufgeführten Ergebnisse keine wesentlichen relativen Alterseffekte.10 Eine kleine Ausnahme liegt im Vorteil für die Jüngsten bezogen auf deren Leseselbstkonzept. Eine Studie zur Situation in den Niederlanden betrachtet ebenfalls eine Stichprobe mit normativem Schulverlauf und kommt zu einem vergleichbaren Ergebnis. Diese Studie betont aber, dass das relativ jüngste Viertel der Schulkinder eine viermal so große Wahrscheinlichkeit aufweist, ein Schuljahr zu wiederholen (29,6 % vs. 8,2 %) und mehr als zwanzigmal weniger wahrscheinlich eine Klasse überspringt (0,3 % vs. 7 %) als das relativ älteste Viertel.11 Auch für Frankreich und Spanien wird von einem signifikanten relativen Alterseffekt in Bezug auf Klassenwiederholung berichtet.12 Zu bedenken ist, dass Sitzenbleiben Folgen für den weiteren schulischen Erfolg haben kann. Hierzu findet sich in der Literatur etwa die Aussage,13 dass „Schüler_innen mit regulärer Schullaufbahn eine dreimal höhere Abiturchance haben als Mitschüler_innen, die bis zur 10. Jahrgangsstufe mindestens eine Klasse wiederholt haben“.

Vielleicht bietet sich mit den Autorinnen und Autoren der zitierten Arbeit zu den Niederlanden das Fazit an, dass die bisherige Literatur zum relative Alterseffekt noch inkonsistent ist. In Bezug auf den Fußball jedenfalls äußert ein involvierter Forscher, dass der DFB das Problem des relativen Alterseffekts jahrelang ignoriert habe, inzwischen aber ein Wandel festzustellen sei: Der DFB möchte sich in seinem Konzept „Projekt Zukunft“ nun diesem Problem widmen.14 Nach außen erkennbar wird dies beispielsweise an ersten Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung in der DFB-Akademie.15

In Bezug auf die Schulbildung in Deutschland bleibt im Vergleich dazu also noch einiges zu tun. In einem ersten Schritt sollten die beschriebenen Inkonsistenzen in der Erforschung relativer Alterseffekte wissenschaftlich aufgeklärt werden. Wenn es gesellschaftlich unstrittig ist, dass Spitzensportlerinnen und -sportler möglichst ihr volles Potenzial entfalten und nicht durch relative Alterseffekte benachteiligt werden sollen, dann sollte dies für Schülerinnen und Schüler umso mehr gelten. Hier gebietet es die allgemeine Fürsorge und das Gerechtigkeitsprinzip, etwaige Benachteiligungen auszuschließen. Dazu kann auch beitragen, dass Lehrkräfte und Eltern die möglichen Auswirkungen relativer Alterseffekte kennen und darauf individuell angemessen reagieren können.

Eine verstärkte Bewusstseinsbildung für relative Alterseffekte wäre selbst dann sinnvoll, wenn es momentan – in Deutschland – keine Benachteiligungen für die Jüngsten eines Jahrgangs in der Schule geben sollte, damit dies auch im zukünftigen Schulalltag so bleibt. Die Schule der Zukunft wird stärker digital geprägt sein, individuellere Lerninhalte haben und voraussichtlich soziale bzw. emotionale Fähigkeiten mehr beachten. Insofern sollten vielfältige mögliche Benachteiligungseffekte bedacht werden.

Sollte die Bildungsforschung zu dem Konsens kommen, dass es auch in Deutschland relative Alterseffekte gibt, böte sich für die Bildungspolitik endlich die Möglichkeit, dem entgegenzuwirken.

Fazit

Vielleicht bietet sich mit den Autorinnen und Autoren der zitierten Arbeit zu den Niederlanden das Fazit an, dass die bisherige Literatur zum relative Alterseffekt noch inkonsistent ist. In Bezug auf den Fußball jedenfalls äußert ein involvierter Forscher, dass der DFB das Problem des relativen Alterseffekts jahrelang ignoriert habe, inzwischen aber ein Wandel festzustellen sei: Der DFB möchte sich in seinem Konzept „Projekt Zukunft“ nun diesem Problem widmen.14 Nach außen erkennbar wird dies beispielsweise an ersten Maßnahmen zur Bewusstseinsbildung in der DFB-Akademie.15

In Bezug auf die Schulbildung in Deutschland bleibt im Vergleich dazu also noch einiges zu tun. In einem ersten Schritt sollten die beschriebenen Inkonsistenzen in der Erforschung relativer Alterseffekte wissenschaftlich aufgeklärt werden. Wenn es gesellschaftlich unstrittig ist, dass Spitzensportlerinnen und -sportler möglichst ihr volles Potenzial entfalten und nicht durch relative Alterseffekte benachteiligt werden sollen, dann sollte dies für Schülerinnen und Schüler umso mehr gelten. Hier gebietet es die allgemeine Fürsorge und das Gerechtigkeitsprinzip, etwaige Benachteiligungen auszuschließen. Dazu kann auch beitragen, dass Lehrkräfte und Eltern die möglichen Auswirkungen relativer Alterseffekte kennen und darauf individuell angemessen reagieren können.

Eine verstärkte Bewusstseinsbildung für relative Alterseffekte wäre selbst dann sinnvoll, wenn es momentan – in Deutschland – keine Benachteiligungen für die Jüngsten eines Jahrgangs in der Schule geben sollte, damit dies auch im zukünftigen Schulalltag so bleibt. Die Schule der Zukunft wird stärker digital geprägt sein, individuellere Lerninhalte haben und voraussichtlich soziale bzw. emotionale Fähigkeiten mehr beachten. Insofern sollten vielfältige mögliche Benachteiligungseffekte bedacht werden.

Sollte die Bildungsforschung zu dem Konsens kommen, dass es auch in Deutschland relative Alterseffekte gibt, böte sich für die Bildungspolitik endlich die Möglichkeit, dem entgegenzuwirken.

Ihre Ansprechpersonen

VDI Research
Prof. Dr. Dr. Axel Zweck
Anna März
Dr. Dirk Holtmannspötter
E-Mail: holtmannspötter@vdi.de

Quellen und weiterführende Links

1 1 Brink T (2021) Der relative Alterseffekt im Fußball. ARD-Sportschau. https://www.sportschau.de/fussball/amateurfussball/relative-alterseffekt-fussball-artikel-100.html.

2 Meuren D (2018) Januarkinder werden eher Profi – Die Gnade der frühen Geburt. FAZ. https://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/bundesliga/gnade-der-fruehen-geburt-januarkinder-werden-eher-fussballprofi-15775261.html; Fritsch O und Venohr S (2015) Fuß-ballprofis zeugt man im April. Zeit. https://www.zeit.de/sport/2015-07/relativer-alterseffekt-dezemberkinder-dfb-jugendfussball

3 Neben Körpergröße und -gewicht werden auch relative Alterseffekte in Bezug auf Laufgeschwindigkeit und technische Fertigkeiten beobachtet, siehe: Leyhr D et al. (2021) Relative Age-Related Biases in Objective and Subjective Assessments of Performance in Talented Youth Soccer Players. Front. Sports Act. Living 3:664231. https://doi.org/10.3389/fspor.2021.664231.

4 Götze M und Hoppe MW (2021) Relative Age Effect in Elite German Soccer: Influence of Gender and Competition Level. Front.  Psychol. 11:587023. doi.org/10.3389/fpsyg.2020.587023; Votteler A und Höner O (2017). Cross-sectional and  longitudinal analyses of the relative age effect in German youth football. German Journal of Exercise and Sport Research. https://doi.org/10.1007/s12662-017-0457-0 .

5 Urruticoechea A et al. The Relative Age Effects in Educational Development: A Systematic Review. Int. J. Environ. Res. Public Health 2021, 18, 8966. https://doi.org/10.3390/ijerph18178966.

6 In diesem Sinne etwa auf Basis einer Stichprobe von 80.946 Schulkindern aus Berlin: Thoren K, Heinig E und Brunner M (2016)  Relative Age Effects in Mathematics and Reading: Investigating the Generalizability across Students, Time and Classes. Front.  Psychol. 7:679. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2016.00679.

7 Votteler A (2017) Der relative Alterseffekt im deutschen Nachwuchsfußball. Dissertation. Universität Tübingen, S. 1–2.   
https://publikationen.uni-tuebingen.de/xmlui/handle/10900/77658.

8 Zusätzlich etwa auf Basis einer Stichprobe von 2003 Schulkindern aus der Region Mainz-Bingen: Diefenbach C et al. (2021) Age at school entry and reported symptoms of attention-deficit/hyperactivity in first graders. Eur Child Adolesc Psychiatry.  https://doi.org/10.1007/s00787-021-01813-7

9 OECD, Givord P (2020) How a student’s month of birth is linked to performance at school: new evidence from PISA. OECD Education
Working Paper No. 221. http://www.oecd.org/officialdocuments/publicdisplaydocumentpdf/?cote=EDU/WKP(2020)9&docLanguage=En.

10 Kretschmann J, Westphal A und Vock M (2021) Does it pay to be one of the oldest in class? Relative age effects on academic  self-concept, peer relations, and teacher judgments in German primary schools. Learning and Instruction. https://doi.org/10.1016/j.learninstruc.2021.101463, 74, (101463).

11 Jeronimus BF et al. (2015) Relative Age Effects in Dutch Adolescents: Concurrent and Prospective Analyses. PLoS ONE 10(6):
e0128856. https://doi.org/10.1371/journal.pone.0128856.

12 Pedraja-Chaparro F et al. (2015) Determinants of grade retention in France and Spain: Does birth month matter? Journal of Policy Modeling, Bd. 37, Heft 5, S. 820–834, https://doi.org/10.1016/j.jpolmod.2015.04.004.

13 Zitat aus Böttcher W und Kühne S (2017) Schulstatistische Individualdaten zur Rekonstruktion von Bildungsverläufen –  Perspektiven für die Weiterentwicklung des Sozial- und Bildungsmonitorings in NRW. https://www.fgw-nrw.de/fileadmin/user_upload/FGW-Studie-VSP-03-Boettcher-A1-komplett-Web.pdf

14 Bark M (2021) Relativer Alterseffekt im Jugendfußball – Das Geburtsdatum als Karrieresprungbrett – Daten und Lösungen. ARD-
Sportschau. https://www.sportschau.de/fussball/fussball-rae-relativer-alterseffekt-daten-broich-100.html.

15 DFB-Akademie (2022) Der relative Alterseffekt im deutschen Spitzenfußball – Eine vergleichende Analyse der Geburtenverteilung im Frauen- und Männerfußball.

https://www.dfb-akademie.de/studie/der-relative-alterseffekt-im-deutschen-spitzenfussball/-/id-15000198; vgl. zu Lösungsvorschlägen auch Webdale K, Baker J, Schorer J und Wattie N (2020). Solving sport’s „relative age“ problem: a systematic review of proposed solutions. Int. Rev. Sport Exerc. Psychol. 13, 187–204. https://doi.org/10.1080/1750984X.2019.1675083.

 

Zitierempfehlung dieser Publikation
Zweck, A., Holtmannspötter, D., März, A. (2022), „Relativer Alterseffekt - Werden die Jüngsten eines Jahrgangs in Sport und Schule benachteiligt?“. VDI Technologiezentrum (Hrsg.), VDI Research Paper, Düsseldorf. https://www.vditz.de/service/publikationen/details/relativer-alterseffekt

 

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